Rekordjahr 1923
Zum Jubiläum des erfolgreichsten Jahres der Eckernförder Fischereigeschichte
1923 – niemals zuvor und nie wieder danach wurde in Eckernförde so viel Fisch angelandet wie in diesem Jahr. Doch wie kam es dazu? Der Eckernförder Fischer Fiete Daniel (1900-1989) erlebte es mit und hielt es in seinem Tagebuch fest.
Von Martin Hüdepohl
Eckernförde, Anfang der 1920er. Unsere Stadt ist einer der wichtigsten Fischereihäfen an der Ostsee. Die Förde ist mit Fischreichtum gesegnet, im Hafen dümpeln hunderte Fischerboote, aus den Schornsteinen der Räuchereien steigt dicker Qualm. Seit Urzeiten wird hier Fischerei betrieben, und in den letzten paar Hundert Jahren hat sich an den Fangmethoden kaum etwas verändert. Kleinfischer nutzen Ruderboote, um in Küstennähe Stellnetze und Reusen auszubringen. Größere Fischer sind im Sommerhalbjahr mit sogenannten „Quasen“ auf Buttfang. Quasen sind etwa zwölf Meter lange Schleppnetzboote mit Gaffelrigg, die ab 1900 auch mit Hilfsmotoren ausgestattet sind. Dank des kleinen Wohnbereichs und der Lebendfischhälterung (Bünn) können die dreiköpfigen Besatzungen mehrere Tage lang auf Fangfahrt bleiben.
Im Winter werden die Quasen stillgelegt, und man wechselt zur Zugnetzfischerei mit den „Wadengespannen“. Ein Wadengespann besteht aus zwei schlanken, offenen Booten mit Spritsegeln, die in Ufernähe ein gemeinsames Netz hufeisenförmig ausbringen und anschließend wieder einholen, in der Hoffnung, einen Schwarm Sprotten oder Heringe darin eingeschlossen zu haben. Diese Art des Fischens, die „Handwadenfischerei“ genannt wurde, wurde bei vereister Förde auch „zu Fuß“ mit Hilfe von ins Eis geschlagenen Löchern unternommen.
Nachbau eins Handwadenbootes im Museumshafen Probstei
Doch die zwanziger Jahre waren ein Jahrzehnt bahnbrechender technischer Neuerungen in der Fischerei, welche diese traditionellen Fangmethoden grundlegend in Frage stellten. Die Einführung von Eismaschinen verdrängte die bisherige Praxis der Lebendfischhälterung, während Kutter die Quasen ablösten und Motoren die Segel überflüssig machten. Eine weitere revolutionäre Innovation erfuhr die Zugnetzfischerei: Die aus Amerika stammende „Ringwade“ gelangte nach Europa und fand zunächst in Skandinavien Verbreitung, bevor sie 1917 auch im Deutschen Reich Einzug hielt.
Diese neue Fangmethode, bei der erstmals gezielt nach Fischen gesucht und das Netz nicht mehr nur blind ausgesetzt wurde, erwies sich als extrem potent und ermöglichte gewaltige Fänge. So gewaltig, dass man, um die traditionellen Handwadenfischer nicht gleich brotlos zu machen, quer durch unsere Förde eine „Ringwadengrenze“ zog, innerhalb derer der Einsatz des neuen Netztyps streng verboten war. Binnen weniger Jahre entstanden entlang der deutschen Ostseeküste unzählige Ringwaden, obwohl die Investition in diese neue Fangmethode kostspielig war: Zu einer Ringwade gehörte nicht nur ein riesiges Netz (etwa 500 Meter lang, 30 Meter hoch), sondern auch ein eigens konstruiertes Ringwadenboot mit Kajüte, sowie eine „Suchjolle“. Um diese Kosten stemmen zu können, wurden Ringwaden in der Regel genossenschaftlich erworben oder durch einen Zusammenschluss mehrerer Fischerfamilien.
Modell einer Ringwade mit Ringwadenboot im Eckernförder Heimatmuseum, gefertigt von Fiete Daniel
Ein typischer Fangtag mit der Ringwade verlief folgendermaßen: Eine Crew von etwa zehn Mann begab sich mit dem Ringwadenboot in das Fanggebiet und setzte dort die Suchjolle aus, ein kleines Dinghi mit einer Besatzung von zwei Mann. Einer ruderte, der andere lotete nach Schwärmen. Das „Suchlot“ war ein einfacher Draht mit Bleigewicht, den man einige Meter über Bord fierte und anschließend zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Befand sich ein Schwarm unter der Jolle, merkte der Sucher dies an Bewegungen am Draht und riss daraufhin seinen Arm in die Höhe. Dies war das Signal für die Besatzung des Ringwadenbootes, welche sich bis dahin meist in der Kajüte mit Grog und Kartenspiel die Zeit vertrieben hatte. Sofort wurde die Wade ausgesetzt, in einem großen Kreis um die Suchjolle herum. Nachdem der „Ring“ geschlossen und das ausgesetzte Netzende wieder aufgenommen wurde, schnürte man die Unterseite der Wade zusammen. Aus dem Ring wurde ein Sack, aus dem es für die Fische kein Entkommen mehr gab. Auf diese Weise konnte mit einem Zug ein kompletter Herings- oder Sprottenschwarm von über zehn Tonnen eingefangen werden.
Der Leser ahnt es bereits: Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage, warum 1923 das Rekordjahr für die Eckernförder Fischerei war, lautet: Wegen der Ringwade. Doch wie genau war das damals eigentlich? Wie fühlte es sich an, plötzlich solche gewaltigen Massen Fisch fangen und nach Hause bringen zu können? Dank der Aufzeichnungen von Fiete Daniel wissen wir es. Versetzen wir uns also zurück ins Jahr 1923. Fiete Daniel, Ökelname „De Bremser“, ist 22 Jahre alt, gehört zur Mannschaft einer Ringwade und arbeitet dort als Sucher auf der Suchjolle.
Im Januar 1923 schildert er in seinem Tagebuch die ersten Versuche mit der neuen Fangmethode, die sich noch als enttäuschend erwiesen:
Nachdem sich die Witterung gebessert hatte, liefen die Hand- und Ringwaden alle wieder zum Fang aus. Die Handwaden, die in der Innenförde fischten, erzielten Fänge bis 400 Pfund. Einzelne Fänge waren zur Hälfte mit Sprotten vermischt. Die Ringwade suchten das ganze Revier von der Grenze bis Boknis querab und von der Grenze bis mitten der Förde und bis in die Südkehle rein, ohne einen Schwarm ans Suchlot zu bekommen, so liefen sie enttäuscht zum Hafen zurück. […] Die Handwaden erzielten in der Innenförde alle Tage gute Fänge. Es waren also genug Fische in unserer Förde, aber nur innerhalb der Ringwadengrenze, deshalb für die Ringwaden unerreichbar.
Im Februar sah es für die Ringwaden in der Förde schon besser aus:
Am Donnerstagmorgen, den 22. Februar, waren 20 Ringwaden am Fangplatz. Eckernförder 10, Maasholmer 4 und von der Kieler Förde 6 Stück. Es wehte ein steifer, kalter Nordwest. Alle Waden suchten von der Grenze ab, denn nach der Süd zu war es sehr ruppig. 300-400 Meter von der Grenze ab setzten die ersten Waden aus. Bei einer Viertelstunde hatten alle 20 ausgesetzt. Es wurden Fänge von 6.000-9.000 Pfund Sielen (Sielen sind dünne, abgelaichte Heringe) mit großen Heringen gemacht, soweit mir bekannt wurde. Alle Waden wurden beim Einziehen der Wade von einer schweren Schneeböe überrascht mit Windstärke 7-8. Das Wetter hielt an, so war das Übernehmen des Fanges sehr schwierig. Jeder war froh, wenn er seinen Fang im Boot hatte und zum Hafen ablaufen konnte.
Im März steigerten sich die Erfolge der Ringwade kontinuierlich, bis es am Freitag, den 23. März, zu dem historischen Rekordfang kam, der nie wieder übertroffen werden sollte. Dieser außergewöhnliche Fangtag versetzte Fiete Daniel in ein solches Hochgefühl, dass er sogar eine prompte Wunderheilung von seiner Erkältung erlebte:
Am 23.3. war leichter Westwind, alle Boote fingen bei der Langhöft-Tonne an zu suchen, keiner hatte eine Spur von Fischen. Es wurde bis weit in die Nordkehle hinein und noch weiter nach draußen gesucht. Wir waren mit unserer Wade am nördlichsten innerhalb der Meilentonne am suchen, da sagte Jörn Dankwardt, eben innerhalb der Meilentonne habe er etwas am Lot gehabt, aber es sei wohl Tang gewesen. Ich war nicht mit in der Jolle – ich hatte mich so erkältet, dass ich kaum japsen konnte. Als wir auf dem Weg zur zweiten Meilentonne waren, rief Jörn Dankwardt: „Schleppt mich man wieder zurück bis zum Haublock zu.”
„Haublock“ hieß eine der Landmarken, an denen sich die Fischer orientierten, für die sie oft humorige Bezeichnungen hatten. Jörn Dankwardt war ein Fischerkollege, den Fiete heimlich für nicht ganz voll nahm.
Ich sprach mit meinen Mackers und sagte: „Irgendwas stimmt da nicht, lass uns man umdrehen und nochmals von innen suchen, ich steige mit in die Jolle ein, irgendwas ist da unklar.”
Jetzt saß man zu dritt in der Jolle. Fiete und Jörn loteten und Fiete Mumm ruderte.
Ich brachte mein Suchlot über Bord und spürte gleich was am Lot, wies meine Mackers darauf hin. Dann erst ließ Jörn Dankwardt sein Lot herab und sagte: „Das sind keine Fische, das ist man Neptuns Gemüsegarten!”
Jörn Dankwardt hielt alles, was er am Suchlot spürte, immer erst für Tang, was ein häufiger Grund für Streitigkeiten war.
Da hatte ich es knüppeldick am Lot und ließ sofort aussetzen. Dankwardt schimpfte auf mich los, wie ich nur die Wade aussetzen lassen könne, denn er habe nichts gespürt. Da sagte Fiete Mumm: „Jörn, nu hör man to. Ick heff sehn, dat Fiete mit eenmal heel bleek in`t Gesick weer. Dat kenn ick an emm, dann hett he noch jümmers een Barg Fisch an sien Draht hatt. Töv dat man aff, dann kriggst to seihn, dat he recht hett!” […] Als wir anfingen, die Wade zusammenzuhieven, ging unsere Oberdelle in der Nordwestecke unter Wasser. Johannes Möller und ich stiegen in die Jolle und ruderten dorthin, wo die Oberdelle abgesackt war, sahen, dass sie ungefähr einen Meter unter der Oberfläche war und eine Unmenge an Fischen nach draußen schwammen. Wir winkten zum Boot, dass sie Einhielten mit dem Einhieven. So kam die Oberdelle wieder hoch und wir konnten sie mit ein paar Strippen an der Jolle festmachen. Das Fischwark, das wir in der Wade hatten, bestand aus reinen Sprotten. Es saß so viel Bestick im Netzgarn, dass, soweit wir nach unten sahen, alles weiß wie ein Bettlaken war.
„Oberdelle“ ist die obere Leine eines Netzes, an der die Schwimmkörper befestigt sind. „Bestick“ nennt man Fische, die sich mit ihren Kiemen im Netzgarn verfangen haben. Einen Fang aus „reinen Sprotten“ zu machen war für die Fischer eine besondere Freude, weil dies das spätere lästige Sortieren in Sprotten und Heringe ersparte.
Unsere Mackers mussten beim Einholen der Wade in einer Tour das Bestick abschlagen. Ich sagte noch zu Johannes Möller: „Das, was wir hier sehen an Fischen und was sie an Bord abschlagen, ist alles Kraut von Jörn sein Gemüsegarten.” Denn wenn die Wade ausgesetzt wurde und kein Fang drin war, hatte Dankwardt immer gestichelt: „Ihr seid mit euerm Lot wieder in Neptuns Gemüsegarten gewesen!” Alle Ringwaden, die um die Spitztonne vom Mittelgrund ausgesetzt hatten, waren so dicht beieinander, dass keine 10 Meter Platz zwischen den Oberdellen der Waden war. Vor lauter Aufregung waren mein Schnupfen und Erkältung verschwunden, das hatte wohl der Schock gemacht über die Menge Fisch am Lot.
Die Fischer hievten einen Fang von 15.000 Pfund Sprotten an Bord und waren kurz darauf die Ersten im Hafen, um die Ausbeute an die Räuchereien zu verkaufen. Nach und nach liefen weitere Boote ein, von denen eines sogar 35.000 Pfund Sprotten und ein anderes 40.000 Pfund Heringe an Bord hatte.
Insgesamt landeten die Fischer an diesem Tag unglaubliche 745.000 Pfund in Eckernförde an. Das entspricht 372 Tonnen und war die größte Menge Fisch, die jemals an einem Tag vor Eckernförde gefangen wurde. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2016 wurden in Eckernförde gerade noch 145 Tonnen und 2021 nur noch 37 Tonnen Fisch angelandet. Doch der Rekord sollte den Fischern auf Dauer kein Glück bringen. Als sie zwei Tage später erneut ausliefen, fanden sie in der Förde keine Spur mehr von Fischen. Die Ringwade ermöglichte enorme Fänge, doch aufgrund der begrenzten Kapazitäten zur Konservierung und Verarbeitung ließen sich solche Mengen nur schwer verkaufen. Sobald der Bedarf der Räuchereien und Fischhändler gedeckt war, sanken die Preise drastisch. Die letzten Fischer am Markt mussten ihre Ware als Viehfutter oder an Düngemittelfabriken zu Spottpreisen verkaufen. Zwar stiegen die Preise in den Folgetagen wieder an, jedoch war der Fisch, der nun teuer hätte verkauft werden können, aufgrund der vorangegangenen Riesenfänge schlichtweg nicht mehr vorhanden. So brachten die zwanziger Jahre den Fischern nicht nur großen technischen Fortschritt, sondern konfrontierten sie erstmals auch mit den Folgen von Überfischung.
Abschließend überlassen wir das Wort noch einmal Fiete:
Das Jahr 1923 ist mit einem Gesamtertrag von 3,4 Millionen Pfund Sprotten und 1½ Millionen Pfund Sielen und Heringen als das fischreichste Jahr in die Eckernförder Geschichte eingegangen. […] Die Ringwadenfischerei war nach diesem Großfangtag mit ihrer Saisonfischerei am Ende. Alle Waden wurden zu ihren Trockenplätzen gebracht. Dort wurden die nötigen Ausbesserungsarbeiten ausgeführt, mit Erneuerung von ganzen Netzstücken in tagelanger Arbeit. Danach wurden die Waden zum Hafen gebracht, wo die Loherei mit großen kupfernen Kesseln begann. Danach wurden sie im Ablageraum bis zum nächsten Tag gelagert. Dann wieder zum Trocknen zu den Trockenplätzen gebracht. Sobald die Waden durchgetrocknet waren, wurden sie auf die Trockenböden geschafft, wo sie bis zur nächsten Saison lagerten. Mit denselben Vorgängen wurden auch die Handwaden behandelt, bis ihre Saison wieder anfing, was in jedem Jahr der erste September war.