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Von Schmulltang, Sternkiekern und stürmischer See: Neues zu Fiete Daniel

Wer die letzten Jahrbücher gelesen hat, wird sich an Fiete Daniel erinnern: den Eckernförder Fischer, Jahrgang 1900, der mit seinen Tagebüchern und anderen Schriften einen umfassenden Zeitzeugenbericht über die Eckernförder Fischerei hinterlassen hat. Seitdem seine Aufzeichnungen der Wissenschaft zugänglich sind, haben sich einige interessante und eigentümliche Ereignisse zugetragen. Der folgende Artikel möchte dem Leser einen Einblick in die jüngsten Entwicklungen zum Thema Fiete bieten.

Von Martin Hüdepohl

Am Abend des 26. Februar 2024 um 20:00 Uhr herrschte in der Eckernförder Kneipe „Nordkap“ eine angespannte Atmosphäre. Denn dort versammelten sich drei Männer zu einer Krisensitzung in der Sache Fiete Daniel.

Krisensitzung? Was war denn vorgefallen? Und wer waren überhaupt die besagten drei Männer? Der eine, Jens Daniel, war der Enkel des legendären Eckernförder Fischers und mein Onkel dritten Grades – der einzige des Trios, der Fiete noch persönlich kannte. Der zweite, Dr. Rüdiger Voss vom Kieler Center for Ocean and Society, beschäftigte sich wissenschaftlich mit Fiete Daniels Werk. Ich selbst, als Dritter im Bunde, hatte Fietes sämtliche handschriftlichen Aufzeichnungen abgeschrieben, in leserliche Form gebracht und aufbereitet. Seitdem fühle ich mich in der Pflicht, gelegentlich Artikel über ihn zu verfassen, um die Öffentlichkeit am Schatz seines schriftlichen Nachlasses teilhaben zu lassen. Doch an jenem Abend herrschte Anspannung. Die ernsten Mienen der drei Männer, die ihre Köpfe dort über Biergläsern zusammensteckten, ließen Schlimmes erahnen. Was war nur geschehen, was ein solches Treffen erforderte?

Die Aufzeichnungen von Fiete hatten schon länger das wissenschaftliche Interesse von Dr. Voss geweckt, da es sich dabei um sehr detaillierte Zeitzeugenberichte über die Ostseefischerei ab dem Jahr 1918 handelt. Sie ermöglichen Einblicke in die kleinskalige Fischerei der damaligen Zeit, wie sie sonst nicht zu finden sind. Dr. Voss hatte bereits bestimmte Passagen daraus mit seiner Arbeitsgruppe ausgewertet und einige Vorträge darüber gehalten, auch auf größeren Fachkonferenzen. Da er nun aber seine Vorträge auch in wissenschaftlichen Fachjournalen veröffentlichen wollte, mussten Fietes Aufzeichnungen, wenn sie als Quelle dienen sollten, nach bestimmten Kriterien überprüft werden. Hierbei fiel einem seiner Mitarbeiter etwas auf, mit dem er sich an mich per E-Mail wandte. Der Betreff seiner Mail ließ meine Kinnlade herunterklappen:

„Fiete Daniels Tagebuch - eine Fälschung”

Sind Fietes Aufzeichnungen nur ein großer Bluff?

Dazu kommentiert Dr. Voss:

Meinem Mitarbeiter waren Zweifel an der Authentizität und somit an der wissenschaftlichen Verwertbarkeit der Aufzeichnungen gekommen. Er monierte, dass die Schrift nicht von Fiete geschrieben sein könne. Dies habe ein Gutachten* ergeben, welches er veranlasst habe, um festzustellen, ob die Schrift des Autors von einer um 1900 geborenen Person stammen könne. Nach Meinung des Gutachters hätte Fietes Schrift mehr Anklänge von 'Kurrent' haben müssen, die altdeutsche Schreibschrift, wie sie zur Schulzeit Fietes gelehrt wurde. Der Gutachter beschränkte sich dabei auf den Vergleich der Großbuchstaben, die er mit Schriftstücken von Personen aus der gleichen Zeit mit ähnlichem Bildungsabschluss verglich. Er kam zu dem Ergebnis, dass Fiete als Schreiber der Aufzeichnungen höchstwahrscheinlich nicht in Frage käme, weil die Schriftprobe auf eine später geborene Person rückschließen ließe, welche die Lateinische Ausgangsschrift gelernt haben müsste. Auch war dem Mitarbeiter als weitere Ungereimtheit aufgefallen, dass an einigen Stellen des Tagebuchs der angegebene Wochentag nicht mit dem dazugehörigen Datum übereinstimmte, sondern immer um einen Tag verschoben war.

Meine eigene Reaktion auf diesen Plagiatsvorwurf war: „Mein Gott, hoffentlich stimmt das!“. Denn eine derart epische Sache wie ein tausendseitiges Tagebuch aus der reinen Phantasie zu erschaffen, und zwar nicht ein Tagebuch von Hitler, um es anschließend dem „Stern“ zu verkaufen, sondern von einem kleinen Fischer, um dieses anschließend unbeachtet in einem Archiv einzulagern … wäre eines der wahnsinnigsten Kunstprojekte, von denen ich jemals gehört hätte. „So jemanden in der Verwandtschaft zu haben,“ überlegte ich, „wäre noch um Größenordnungen spektakulärer, als jemanden, der all dies wirklich erlebt und aufgeschrieben hat.“ Zur Verdeutlichung: Fietes Manuskript hat den Umfang von 13 Heftromanen, ich hatte ein Register von 225 Orten und 189 Personen angelegt, plus einen Glossar von 268 Fachbegriffen. Unzählige Listen hatte ich abgetippt, sowie hunderte Seiten von staubtrockenen Berichten von Fangfahrten. Ich hatte das Gewicht jedes einzelnen Steinbutts übertragen, den Fiete zwischen 1918 und 1923 gefangen hatte; 1845 Mal hatte ich allein das Wort „Pfund” geschrieben. Mord und Totschlag, Liebesgeschichten oder überhaupt Gefühle, die über ein „ich freute mich” hinausgehen, kommen nicht darin vor. Und ausgerechnet sowas soll sich jemand einfach so aus der Nase gezogen haben? Aber wie gesagt, die Vorstellung, dieses Manuskript sei das Phantasieprodukt eines genialen Exzentrikers, gefiel mir gar nicht mal so schlecht. Nicht so aber Dr. Rüdiger Voss, für den das Manuskript eine wissenschaftlich relevante Quelle darstellt und somit natürlich authentisch sein muss. Dazu schreibt er:

Auch ich war von dem Ergebnis des Gutachtens überrascht, da ich die Idee einer Fälschung für zu weit hergeholt und nicht plausibel hielt. Mir fehlte das Motiv: Wer sollte so etwas tun? Und warum? Ich habe deshalb ein weiteres Gutachten in Auftrag gegeben. Während das erste Gutachten lediglich den graphologischen Blickwinkel beleuchtet hatte, gab es mit dem zweiten Gutachten nun eine Stellungnahme von einem promovierten Professor der Linguistik, der gleichzeitig schon lange Jahre als gerichtlich bestellter Gutachter an Gerichten tätig war. Er kritisierte die methodische Vorgehensweise des ersten Gutachters, der sich lediglich mit dem Schriftbild der Großbuchstaben auseinandergesetzt hatte, und hielt das unvollständige Vorgehen für wenig sinnvoll und aussagekräftig. Zu Fietes Schriftbild bemerkte der zweite Gutachter, dass der Schreiber seit der Einführung der Lateinischen Ausgangsschrift 1941 bis in die 1980er Jahre gut 40 Jahre Zeit gehabt hätte, sein Schriftbild umzustellen. Er schlussfolgerte, dass eine Schriftveränderung schlichtweg erwartbar gewesen sei. Viel wichtiger war, aus seiner Sicht, zu überprüfen und einzuordnen, ob ein Text aus linguistischer Sicht authentisch und die Entstehung nachvollziehbar wäre. Zusammenfassend ergaben sich aus sprachwissenschaftlicher Sicht keine Zweifel an der Authentizität des untersuchten Schriftstücks. Die These, dass jemand Fietes Tagebücher gefälscht haben könnte, hielt er schlichtweg für nicht plausibel, denn auch die Plausibilität sei ein wichtiges Kriterium, ein Schriftstück einzuordnen. Das wichtigste Ergebnis war also, dass Fietes Arbeitstagebuch authentisch ist und sich für wissenschaftliche Verwendung eignet. Der Experte fügte aber an, dass eine sogenannte Quellenkritik bei Veröffentlichungen hilfreich sein könnte, um aufgekommene Unstimmigkeiten zu erklären.

Und so kam es zu jener „Krisensitzung” im Nordkap, um zu besprechen, wie der Plagiatsvorwurf weiter zu entkräften sei. Zu seiner Beruhigung konnte Jens dann noch bezeugen, dass er mit eigenen Augen gesehen habe, wie Fiete in den 80ern an seinem Manuskript gearbeitet hatte: „Wir Kinder haben ihn eigentlich immer nur am Schreibtisch gesehen. Selbst an Familienfesten kam er nur kurz runter, um seinen Kuchen zu essen und ging dann gleich wieder an die Arbeit. Die Alten sagten dann: 'Laat em man, denn hett he wat to doon'.“ Auch für die falschen Wochentage fanden wir eine Erklärung: Fiete schrieb seine Aufzeichnungen zweimal selber ab, einmal in den 60ern und einmal in den 80ern, um sie lesbar zu erhalten (sie waren anfangs nur mit Bleistift verfasst). Was mittlerweile unleserlich geworden war, rekonstruierte er aus der Erinnerung, und so haben sich einige Inkonsistenzen einschleichen können.

Schließlich verblieben wir so, dass Jens nach weiteren handschriftlichen Dokumenten in Fietes Nachlass suchen wollte, um einen finalen Schriftbildvergleich zu ermöglichen. Und tatsächlich wurden Dr. Voss und mir diese auch wenig später auf einer gemeinsamen Lesung zum Thema Fiete überreicht.

Der Rest des Abends wurde dann noch sehr gemütlich und nostalgisch mit vielen Anekdoten rund um Fiete.

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